Neuerscheinung: Soziale Dienstleistungen. Marktgestaltung für hilfebedürftige Menschen
2. Auflage, Tübingen 2023: Mohr Siebeck/UTB, 29 Euro (Zusammen mit Nils Goldschmidt und Sven Höfer)

Aus der Verlagsankündigung: Die Autoren erörtern die Marktfähigkeit sozialer Dienstleistungen und leiten aus den Charakteristika sozialer Dienstleistungen Konsequenzen für die Gestaltung der Märkte ab, auf denen sie erbracht werden. Ausführlich analysiert werden die alternativen Modelle der Marktgestaltung, das Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis, die Sicherstellung der Nachfragemacht über ein persönliches Budget bzw. über Gutscheine und die Beauftragung privater Leistungserbringer mittels Ausschreibungen nach Vergaberecht. Für die Neuauflage wurden alle Kapitel des Buches überarbeitet und aktualisiert. Die Änderungen des Sozialrechts der letzten 10 Jahren wurden berücksichtigt. Neu ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Kritik, die aus unterschiedlichen Richtungen am System der Erbringung sozialer Dienstleistungen geäußert wird. Die Autoren positionieren soziale Dienstleistungen als Teil einer inklusiv ausgerichteten Sozialen Marktwirtschaft, wobei die Marktgestaltung für hilfesuchende Menschen den entscheidenden Aspekt darstellt.
Neue Veröffentlichung: Das kritische Korrektiv fehlt. Erwartungsgelenkte Verzerrungen in der Berichterstattung über den Sozialstaat in Deutschland.
In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, Heft 2/2023, S. 214–232.
Abstract: Verbreitete Bilder zur sozialen Lage und zur Sozialpolitik in Deutschland haben – unabhängig davon, wie valide ihre empirische Basis ist – Folgen für die Berichterstattung. Sie prägen, welche Entwicklungen als berichtenswert angesehen und wie sie interpretiert werden. Damit verstärkt die Berichterstattung verfestigte Einschätzungen. Dies ist häufig nachteilig für eine lösungsorientierte Reformdebatte, da Probleme nicht differenziert und zielgruppengenau in den Blick genommen werden. Auf Seiten der Medien fehlt häufig das kritische Korrektiv, insbesondere dann, wenn Pressemeldungen von Sozialverbänden den Vorerwartungen entsprechen und die abgeleiteten Forderungen der Verbände einer guten Sache zu dienen scheinen. Selbst bei stark verzerrten Darstellungen gibt es Hemmungen bei Politikerinnen und Politikern, öffentlich eine Gegenposition zu vertreten, weil damit das Risiko verbunden ist, den Vorwurf zu erhalten, soziale Probleme ›kleinreden‹ zu wollen. Auch fehlendes statistisches Handwerkszeug im Umgang mit komplexen Sozialstatistiken spielt eine Rolle.
https://journalistik.online/ausgabe-2-2023/das-kritische-korrektiv-fehlt/
Kindergrundsicherung: Diese Reform braucht Geld und realistische Ziele
Georg Cremer
Die Kindergrundsicherung soll Kinderarmut bekämpfen. Gemessen an realistischen Zielen kann sie dies leisten. Mit illusorischen Ansprüchen aber droht Politik zu scheitern.
Eine Analyse von Georg Cremer
Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE, 24.02.2023
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Die Ampelkoalition streitet über die bekannt gewordenen Eckpunkte der Kindergrundsicherung. Die Erwartungen daran sind hoch. Tatsächlich könne sie ein armutspolitischer Erfolg werden, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Sofern damit realistische Ziele verfolgt werden und nicht überzogene Erwartungen verknüpft. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands analysiert für ZEIT ONLINE in loser Reihenfolge die aktuelle Sozialpolitik.
"Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen, werden mit der Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen und konzentrieren uns auf die, die am meisten Unterstützung brauchen." So heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel auf Seite 94. Nun sind die formell noch internen Eckpunkte des federführenden Familienministeriums für die Kindergrundsicherung bekannt geworden, und vor allem FDP und Grüne streiten darüber.
Dabei ist das Vorhaben sinnvoll, denn die Kindergrundsicherung vereint die wichtigsten monetären Leistungen für Kinder. Wer die Eckpunkte nicht vor Augen hat, dem sei das Modell noch einmal kurz vorgestellt: Mit der neuen Leistung wird das Kindergeld mit dem Kinderregelsatz des Bürgergelds (vor Kurzem noch Arbeitslosengeld II oder Hartz IV genannt), dem Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensbezieher und dem Teilhabebetrag für Musikschule oder Sportverein aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zusammengeführt. Das Kindergeld bekommen alle. Aber von den anderen Einzelleistungen wissen viele Familien nichts, trotz rechtlicher Ansprüche gehen sie oft leer aus. Künftig soll es einen Garantiebetrag geben, gleich hoch für alle Kinder, und einen Zusatzbeitrag in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern, so der Vorschlag.
Die Erwartungen sind hoch. Es soll alles ganz einfach sein. Im digitalen Kindergrundsicherungsportal sind die Daten verfügbar, die bei anderen Behörden bereits vorliegen. Der Staat kümmert sich darum, dass alle Kinder zu ihrem Recht kommen. Aus einer Holschuld der Eltern werde eine Bringschuld des Staates, so die Eckpunkte.
Die Ziele müssen realistisch bleiben
Unklar ist, welche Mittel für die Reform zur Verfügung stehen. Die Kindergrundsicherung sei keine neue Sozialleistung, sondern müsse "Leuchtturm für eine neue Sozialverwaltung" sein, fordert FDP-Fraktionschef Dürr. "Der Staat muss besser, nicht teurer werden." Das wäre die Magervariante der Kindergrundsicherung, die bisherigen Leistungsansprüche werden zusammengeführt, aber nicht erhöht. Aber teurer würde es trotzdem. Denn es ist schräg, wenn Dürr so tut, als würde Geld für Kinder im Sozialsystem versickern. Nein, es ist bisher schlicht nicht eingeplant worden, weil bei der Haushaltserstellung bekannt ist, dass viele Familien ihre Ansprüche nicht geltend machen. Ein Sozialstaat, dessen Unterstützung digitalisiert und zugänglich wird, wie dies auch Christian Lindner fordert, wird seine Zusagen umsetzen. Dann sollte Schluss damit sein, dass die Bundesregierung, wie 2019 mit dem Starke-Familien-Gesetz geschehen, den Kinderzuschlag substanziell verbessert und zugleich davon ausgeht, dass nur ein Drittel der berechtigten Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen ihn erhalten wird. Diese hohe Nichtinanspruchnahme hat die Bundesregierung jüngst bestätigt. Selbst wenn es keine Leistungsverbesserungen gibt, kann die Kindergrundsicherung nicht ausgaben-neutral sein. Die Bundesregierung muss sich – in Abwägung anderer Prioritäten, die auch dringend sind – auf einen substanziellen Betrag einigen. Sonst kann sie es bleiben lassen.
Zugleich müssen die Ziele realistisch bleiben. Die Formulierung des Koalitionsvertrages, "mehr Kinder" aus der Armut herauszuholen, ist politisch riskant. Wie viele Kinder sollen dann weiterhin in der Armut zurückgelassen werden? Dem Vorhaben fehlt bisher ein klar definiertes armutspolitisches Ziel.
Das festzulegen, ist kommunikativ heikel. Die federführende Bundesfamilienministerin Lisa Paus formuliert sehr forsch: Es mache sie wütend, dass in einem so reichen Land wie Deutschland überhaupt Kinder in Armut aufwachsen müssen. Es sei eine Schande, dass jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen sei.
Damit verfängt sich die Ministerin – wie die meisten Sozialpolitikerinnen und -politiker – in den Fallstricken der deutschen Armutsdebatte. Sie referiert eine Zahl, die sich ergibt, wenn man die Kinder zählt, die in Familien leben, deren verfügbares Einkommen niedriger ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Haushalte gleicher Zusammensetzung. Die 60-Prozent-Grenze als statistische Konvention zur Messung des "Armutsrisikos" liegt immer zugrunde, wenn zu lesen ist, 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien arm, meist illustriert mit dem Bild eines obdachlosen oder Flaschen sammelnden Menschen.
Nimmt man die Ministerin wörtlich, so ist die Kindergrundsicherung nur dann ein Erfolg, wenn es in Deutschland keine Kinder mehr gibt, die in Familien leben, deren Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle liegt. Diese wird auf Grundlage von Einkommensbefragungen ermittelt. Da es mehrere davon gibt, gibt es unterschiedliche Einkommensrisikogrenzen. Das Statistische Bundesamt ermittelt auf Grundlage des Mikrozensus bei einer Familie mit zwei Kindern (einem unter, einem über 14 Jahre) für 2021 eine "Armutsrisikogrenze" von 2.877 Euro verfügbarem Einkommen. Nach den Daten für 2018, der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die stets höhere Werte als der Mikrozensus ausweist, liegt die Grenze für eine Familie gleicher Zusammensetzung bei 3.137 Euro.
Armutsgrenzen taugen nicht als sozialpolitische Norm
Diese Grenzen taugen aber nicht als sozialpolitische Norm. Auch in den gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien ist es nie gelungen, allen Menschen ein Einkommen oberhalb der 60-Prozent-Schwelle zu garantieren. Es ist sinnlos, Erfolg oder Misserfolg der Kindergrundsicherung an dieser Schwelle zu messen. Verteilungspolitik müsste sicherstellen, dass es überhaupt keine Familien gibt, deren verfügbares Einkommen unter den genannten Einkommensschwellen liegt. Und zwar unabhängig davon, ob und wie viel die Eltern arbeiten, unabhängig davon, ob sie in Gegenden mit hohen oder niedrigen Mieten leben. Selbst die derzeit gehandelte Maximalforderung zur Kindergrundsicherung könnte nicht verlässlich sicherstellen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe künftig ein "Armutsrisiko" der Kinder von null ausweist. Die Rhetorik von Sozialstaatsversagen und Schande ginge somit weiter.
Die Bundesregierung muss sich also verständigen, was sie armutspolitisch erreichen will. Transferleistungen für arme Menschen müssen den Bedarf decken, dieser muss transparent ermittelt und politisch entschieden werden. Diese Aufgabe kann man nicht an die Statistiker auslagern.
Was wären realistische Ziele? Ein großer Fortschritt wäre bereits, wenn es gelänge, über den Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung alle Familien von Erwerbstätigen mit niedrigen Einkommen verlässlich zu erreichen. Darüber hinaus sollte man den Berechnungsprozess für den Bedarf von Kindern überprüfen. Lisa Paus fordert dies in der aktuellen Auseinandersetzung mit Lindner. Die Berechnung erfolgt über ein statistisches Verfahren, mit dem erfasst wird, was Elternpaare mit einem Kind für ihre Kinder ausgeben, die etwas mehr haben als Empfänger von Sozialtransfers. Auch diese Familien können nur äußerst sparsam wirtschaften, sie geben wenig Geld für die kulturelle Teilhabe und für Freizeitaktivitäten ihrer Kinder aus. Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung können Familien der unteren Mitte stärker gestützt werden. Wie großzügig die Ampel sein kann und will, muss sie aushandeln.
Auch sollte man es nicht übertreiben mit der Rhetorik einer radikalen Vereinfachung aller Sozialleistungen. Wenn die Leistungen für Familien einzelfallgerecht, rechtskonform und zudem finanzierbar sein sollen, wird es auch künftig nicht ohne ein gewisses Maß an Bürokratie gehen. So sinnvoll es ist, Leistungen für den Regelfall zu pauschalieren, es wird Bedarf geben, der eine Einzelfallprüfung erfordert. Die Jobcenter werden dabei eine wichtige Rolle behalten müssen.
Serie auf ZEIT ONLINE: Soziale Mythen
- Serienübersicht
- "Die Mittelschicht bröckelt, schrumpft, erodiert oder zerfällt" (30.06.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Um Altersarmut zu bekämpfen, muss das Rentenniveau erhöht werden!" (07.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Der Sozialstaat explodiert" (14.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Hartz IV ist eine gigantische Maschinerie zur Aufstockung von Armutslöhnen" (21.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Die Umverteilung findet von unten nach oben statt" (28.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Wir sind die letzte Generation, der es besser geht als ihren Eltern" (08.08.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Früher konnte eine Familie von einem Gehalt noch leben" ZEIT ONLINE (Z+)
- "Vermögensteuer wieder einführen – damit der Staat endlich handlungsfähig wird!" ZEIT ONLINE (Z+)

Freiburg: Herder, gebunden, 25 Euro
Der deutsche Sozialstaat ist gut ausgebaut, aber er leistet nicht genug gegen gesellschaftliche Spaltung. So wichtig Umverteilung ist, Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen. Um teilhaben zu können, müssen alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potentiale entfalten können. Eine Politik der Befähigung, wie sie Georg Cremer in diesem Buch vorstellt, fördert Selbstsorge und Autonomie, ohne die Fürsorge zu vernachlässigen. Sie stärkt zugleich die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Und sie ermöglicht einen Mittelweg zwischen dem illusionären Wunsch nach völlig anderen Verhältnissen und der resignativen Kapitulation vor verfestigter sozialer Ungleichheit. Sozial ist, was Menschen schützt und sie zugleich stärkt.
Verlagsinformation, Leseprobe
Gespräch zum Buch mit Susanne Führer: Deutschlandfunk Kultur
Saarländischer Rundfunk: Fragen an den Autor. Gespräch mit Kai Schmieding, 12.09.2021
Besprechung von Matthias Schulze-Böing auf faustkultur.de
Vortrag "Aufstieg aus dem Abseits - Für eine Politik der Befähigung". Walter Eucken Institut u. Aktionskreis Freiburger Schule (21.06.2022) Aufzeichnung bei Youtube
Ein Jahr Corona: Der Sozialstaat im Stresstest
Wie zu erwarten war, hat es nicht an Versuchen gefehlt, mit der Pandemie die große Erzählung des Sozialabbaus zu bedienen, etwa mit dem Gerede vom „kaputtgesparten Gesundheitswesen“. Dabei hat sich der Sozialstaat bewährt. Es zeigen sich aber Defizite im Umgang mit jenen, die am verwundbarsten sind. Daraus sollte man für die Zeit nach Corona lernen. Von Georg Cremer
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Gegenwart, 15. März 2021
Experiment zum Grundeinkommen: Werden wir hinterher klüger sein?
Standpunkt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.2020
Normalerweise wird die Ankündigung eines Forschungsprojektes von der Öffentlichkeit nicht weiter beachtet. Diesmal ist es anders, das Presseecho ist groß. Der Verein „Mein Grundeinkommen“ ermöglicht über Spenden aus einem großen Kreis von Unterstützern einen Modellversuch, den das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wissenschaftlich begleiten wird. Drei Jahre lang werden 120 aus den Bewerbern zufällig ausgewählte Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1200 Euro im Monat erhalten. Sie werden regelmäßig befragt werden, wie auch eine größere Kontrollgruppe, die kein Grundeinkommen erhält.
Man betrete damit wissenschaftliches Neuland, so der wissenschaftliche Leiter der Begleitforschung, Jürgen Schupp. „Wir möchten herausfinden, ob ein bedingungslos ausgezahlter Geldbetrag über den Zeitraum von drei Jahren zu statistisch signifikanten Veränderungen im Handeln und Empfinden führt.“
Vermutlich wird dies so sein. Monatlich 1200 Euro für drei Jahre entspricht einem Geldgeschenk von 43200 Euro. Manche werden ein Studium aufnehmen, von dem sie schon lange geträumt haben. Andere werden sich mehr Zeit für die Familie gönnen, solange die Kinder klein sind. Viele werden schlicht genau so weiterarbeiten wie bisher, weil sie damit zufrieden sind und zudem wegen einer dreijährigen Einkommensspritze nicht ihre beruflichen Ambitionen aufgeben. Aber sie freuen sich über das Vermögenspolster, das sie in der Zeit aufbauen können.
Alleinerziehende, die nur in Teilzeit arbeiten können, werden durchatmen, da sie drei entscheidende Jahre ohne finanzielle Sorgen verbringen können. Hartz-IV-Empfänger werden mit größerer Motivation eine Arbeit aufnehmen, weil ihnen, da ihr Einkommen für drei Jahre bedingungslos ist, nicht das meiste ihres Verdienstes über den Transferentzug wieder verlorengeht. Die Studie wird Erkenntnisse bringen, die man dem bei weitem schlechtesten Argument gegen das bedingungslose Grundeinkommen entgegensetzen kann: Alle würden sich dann auf die faule Haut legen und aufhören zu arbeiten. Dies werden wohl die wenigsten tun.
Aber sind wir, wenn wir dies wissen und nicht nur vermuten, wirklich besser gewappnet, um zu entscheiden, ob ein Grundeinkommen für alle eingeführt werden kann? Sollte es je Wirklichkeit werden, so muss es finanziert werden. Der Verein „Mein Grundeinkommen“ fordert eine bedingungslose Zahlung an alle Bürger und will zugleich den heutigen Sozialstaat erhalten. Er setzt sich sehr eindeutig von dem Vorschlag des Hamburger Ökonomen Thomas Straubhaar ab, durch ein Grundeinkommen den Sozialstaat heutiger Prägung zu ersetzen.
Sozialstaat plus Grundeinkommen ginge nur mit sehr hohen Steuern, wenn es denn überhaupt ginge. Die Steuern müssten vom ersten Euro an auf alle wirtschaftlichen Aktivitäten erhoben werden. Ein Grundeinkommen von 1200 Euro liegt deutlich oberhalb der Werte, die bei bisherigen Abschätzungen der Steuerbelastung, die ein Grundeinkommen erforderte, angenommen wurden. Wie würde sich ein einheitlicher Steuersatz von beispielsweise 60 Prozent – der obere Wert der bisherigen Abschätzungen – oder eine noch höhere Besteuerung auf das Arbeitsangebotsverhalten auswirken?
Auch wenn viele Menschen zwar weiterarbeiten, aber ihr Arbeitsvolumen reduzieren, reduziert dies die zu versteuernden Einkommen wie auch das Fachkräfteangebot. Schwarzarbeit nähme vermutlich zu. Viele Menschen werden, um die hohen Belastungen zu vermeiden, mehr Güter und Dienste in Eigenarbeit erstellen. Befürworter des Grundeinkommens mögen darin einen begrüßenswerten Schritt weg von der Arbeits-, hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft sehen. Aber die Flucht in die Autarkie reduziert die Steuerbasis und zudem die Chancen von Menschen mit geringen Qualifikationen, ihr Grundeinkommen durch Erwerbsarbeit aufzustocken, und verfestigt damit ihren gesellschaftlichen Ausschluss. Schließlich kann man das am leichtesten selbst herstellen, wozu man keine besonderen Qualifikationen benötigt. Ein gewisser Teil der freiberuflich Tätigen dürfte die Freizügigkeit in Europa nutzen, um den hohen Steuern zu entkommen. Viele Dienstleistungen kann man auch anbieten, wenn der Wohnsitz (offiziell) jenseits der Grenze liegt.
Je umfangreicher diese und andere Ausweichreaktionen genutzt werden, desto höher muss die Besteuerung der weiterhin steuerlich erfassten Wertschöpfung ausfallen. Irgendwann überschreitet man mit stark steigenden Belastungen auch verfassungsrechtliche Grenzen. Auch wenn diese nicht eindeutig bestimmt sind, darf die Besteuerung keine konfiskatorische Wirkung haben. Das gebietet auch die ökonomische Vernunft.
Diese Probleme kann der nun startende Praxistest nicht erforschen. Denn das Grundeinkommen wird geschenkt, ohne dass bei anderen eine Belastung anfällt, außer bei Spendern, die dies freiwillig tun. Nichts muss an anderer Stelle angepasst werden, Sozialleistungen und Steuern bleiben unverändert. In einem Test mit 120 glücklichen Gewinnern geht das. Bei einem Grundeinkommen für alle ginge dies nur, wenn es ein höheres Wesen gäbe, das uns jedes Jahr etwa 1000 Milliarden Euro schenkte. Wirklich erproben kann man das bedingungslose Grundeinkommen nur im gesellschaftlichen Großversuch, mit den entsprechenden Risiken.
Anhörung zum Grundrentengesetz
Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, 25.05.2020
Stellungnahme G. Cremer https://www.bundestag.de/resource/blob/697082/e8caf5c3196ceeb1df50fbf803f3993f/19-11-664-data.pdf
Armut im Alter: zum Verantwortungsbereich von Rentenversicherung und Sozialhilfe
Beitrag in: Deutsche Rentenversicherung 1/2020, S. 127 – 144. PDF
Armut im Alter wird entweder vermieden, oder sie muss, wenn sie einzutreten droht, durch ein Grundsicherungssystem bekämpft werden. Rentenversicherung und Sozialhilfe entsprechen mit dem Äquivalenz- beziehungsweise dem Bedürftigkeitsprinzip klar unterscheidbaren Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Die Auseinandersetzung zur Abgrenzung des Verantwortungsbereichs von Rentensystem und Sozialhilfe wird zur Gruppe der Menschen geführt, die trotz langjähriger sozialversicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit keine armutsvermeidenden Rentenanwartschaften erworben haben. Die vom Bundeskabinett in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachte Grundrente zielt auf die materielle Besserstellung dieser Gruppe innerhalb des Rentensystems; sie differenziert aber nicht nach den Gründen, warum keine armutsvermeidende Altersabsicherung erreicht wurde. Armutsvermeidung ist nur ein Nebeneffekt der Grundrente, somit bleibt der Reformbedarf bei der Grundsicherung im Alter. Über eine Freibetragsregelung kann sichergestellt werden, dass alle Empfänger der Grundsicherung im Alter, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, über höhere Alterseinkünfte verfügen, als wenn sie nie Rentenbeiträge geleistet hätten, und sich somit ihre Beiträge im Alter gelohnt haben werden.