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Kindergrundsicherung: Diese Reform braucht Geld und realistische Ziele

Georg Cremer

Die Kindergrundsicherung soll Kinderarmut bekämpfen. Gemessen an realistischen Zielen kann sie dies leisten. Mit illusorischen Ansprüchen aber droht Politik zu scheitern.

Eine Analyse von Georg Cremer

Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE, 24.02.2023

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Die Ampelkoalition streitet über die bekannt gewordenen Eckpunkte der Kindergrundsicherung. Die Erwartungen daran sind hoch. Tatsächlich könne sie ein armutspolitischer Erfolg werden, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Sofern damit realistische Ziele verfolgt werden und nicht überzogene Erwartungen verknüpft. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands analysiert für ZEIT ONLINE in loser Reihenfolge die aktuelle Sozialpolitik.

"Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen, werden mit der Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen und konzentrieren uns auf die, die am meisten Unterstützung brauchen." So heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel auf Seite 94. Nun sind die formell noch internen Eckpunkte des federführenden Familienministeriums für die Kindergrundsicherung bekannt geworden, und vor allem FDP und Grüne streiten darüber.

Dabei ist das Vorhaben sinnvoll, denn die Kindergrundsicherung vereint die wichtigsten monetären Leistungen für Kinder. Wer die Eckpunkte nicht vor Augen hat, dem sei das Modell noch einmal kurz vorgestellt: Mit der neuen Leistung wird das Kindergeld mit dem Kinderregelsatz des Bürgergelds (vor Kurzem noch Arbeitslosengeld II oder Hartz IV genannt), dem Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensbezieher und dem Teilhabebetrag für Musikschule oder Sportverein aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zusammengeführt. Das Kindergeld bekommen alle. Aber von den anderen Einzelleistungen wissen viele Familien nichts, trotz rechtlicher Ansprüche gehen sie oft leer aus. Künftig soll es einen Garantiebetrag geben, gleich hoch für alle Kinder, und einen Zusatzbeitrag in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern, so der Vorschlag.

Die Erwartungen sind hoch. Es soll alles ganz einfach sein. Im digitalen Kindergrundsicherungsportal sind die Daten verfügbar, die bei anderen Behörden bereits vorliegen. Der Staat kümmert sich darum, dass alle Kinder zu ihrem Recht kommen. Aus einer Holschuld der Eltern werde eine Bringschuld des Staates, so die Eckpunkte.

Die Ziele müssen realistisch bleiben

Unklar ist, welche Mittel für die Reform zur Verfügung stehen. Die Kindergrundsicherung sei keine neue Sozialleistung, sondern müsse "Leuchtturm für eine neue Sozialverwaltung" sein, fordert FDP-Fraktionschef Dürr. "Der Staat muss besser, nicht teurer werden." Das wäre die Magervariante der Kindergrundsicherung, die bisherigen Leistungsansprüche werden zusammengeführt, aber nicht erhöht. Aber teurer würde es trotzdem. Denn es ist schräg, wenn Dürr so tut, als würde Geld für Kinder im Sozialsystem versickern. Nein, es ist bisher schlicht nicht eingeplant worden, weil bei der Haushaltserstellung bekannt ist, dass viele Familien ihre Ansprüche nicht geltend machen. Ein Sozialstaat, dessen Unterstützung digitalisiert und zugänglich wird, wie dies auch Christian Lindner fordert, wird seine Zusagen umsetzen. Dann sollte Schluss damit sein, dass die Bundesregierung, wie 2019 mit dem Starke-Familien-Gesetz geschehen, den Kinderzuschlag substanziell verbessert und zugleich davon ausgeht, dass nur ein Drittel der berechtigten Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen ihn erhalten wird. Diese hohe Nichtinanspruchnahme hat die Bundesregierung jüngst bestätigt. Selbst wenn es keine Leistungsverbesserungen gibt, kann die Kindergrundsicherung nicht ausgaben-neutral sein. Die Bundesregierung muss sich – in Abwägung anderer Prioritäten, die auch dringend sind – auf einen substanziellen Betrag einigen. Sonst kann sie es bleiben lassen.

Zugleich müssen die Ziele realistisch bleiben. Die Formulierung des Koalitionsvertrages, "mehr Kinder" aus der Armut herauszuholen, ist politisch riskant. Wie viele Kinder sollen dann weiterhin in der Armut zurückgelassen werden? Dem Vorhaben fehlt bisher ein klar definiertes armutspolitisches Ziel.

Das festzulegen, ist kommunikativ heikel. Die federführende Bundesfamilienministerin Lisa Paus formuliert sehr forsch: Es mache sie wütend, dass in einem so reichen Land wie Deutschland überhaupt Kinder in Armut aufwachsen müssen. Es sei eine Schande, dass jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen sei.

Damit verfängt sich die Ministerin – wie die meisten Sozialpolitikerinnen und -politiker – in den Fallstricken der deutschen Armutsdebatte. Sie referiert eine Zahl, die sich ergibt, wenn man die Kinder zählt, die in Familien leben, deren verfügbares Einkommen niedriger ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Haushalte gleicher Zusammensetzung. Die 60-Prozent-Grenze als statistische Konvention zur Messung des "Armutsrisikos" liegt immer zugrunde, wenn zu lesen ist, 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien arm, meist illustriert mit dem Bild eines obdachlosen oder Flaschen sammelnden Menschen.

Nimmt man die Ministerin wörtlich, so ist die Kindergrundsicherung nur dann ein Erfolg, wenn es in Deutschland keine Kinder mehr gibt, die in Familien leben, deren Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle liegt. Diese wird auf Grundlage von Einkommensbefragungen ermittelt. Da es mehrere davon gibt, gibt es unterschiedliche Einkommensrisikogrenzen. Das Statistische Bundesamt ermittelt auf Grundlage des Mikrozensus bei einer Familie mit zwei Kindern (einem unter, einem über 14 Jahre) für 2021 eine "Armutsrisikogrenze" von 2.877 Euro verfügbarem Einkommen. Nach den Daten für 2018, der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die stets höhere Werte als der Mikrozensus ausweist, liegt die Grenze für eine Familie gleicher Zusammensetzung bei 3.137 Euro. 

Armutsgrenzen taugen nicht als sozialpolitische Norm

Diese Grenzen taugen aber nicht als sozialpolitische Norm. Auch in den gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien ist es nie gelungen, allen Menschen ein Einkommen oberhalb der 60-Prozent-Schwelle zu garantieren. Es ist sinnlos, Erfolg oder Misserfolg der Kindergrundsicherung an dieser Schwelle zu messen. Verteilungspolitik müsste sicherstellen, dass es überhaupt keine Familien gibt, deren verfügbares Einkommen unter den genannten Einkommensschwellen liegt. Und zwar unabhängig davon, ob und wie viel die Eltern arbeiten, unabhängig davon, ob sie in Gegenden mit hohen oder niedrigen Mieten leben. Selbst die derzeit gehandelte Maximalforderung zur Kindergrundsicherung könnte nicht verlässlich sicherstellen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe künftig ein "Armutsrisiko" der Kinder von null ausweist. Die Rhetorik von Sozialstaatsversagen und Schande ginge somit weiter.

Die Bundesregierung muss sich also verständigen, was sie armutspolitisch erreichen will. Transferleistungen für arme Menschen müssen den Bedarf decken, dieser muss transparent ermittelt und politisch entschieden werden. Diese Aufgabe kann man nicht an die Statistiker auslagern.

Was wären realistische Ziele? Ein großer Fortschritt wäre bereits, wenn es gelänge, über den Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung alle Familien von Erwerbstätigen mit niedrigen Einkommen verlässlich zu erreichen. Darüber hinaus sollte man den Berechnungsprozess für den Bedarf von Kindern überprüfen. Lisa Paus fordert dies in der aktuellen Auseinandersetzung mit Lindner. Die Berechnung erfolgt über ein statistisches Verfahren, mit dem erfasst wird, was Elternpaare mit einem Kind für ihre Kinder ausgeben, die etwas mehr haben als Empfänger von Sozialtransfers. Auch diese Familien können nur äußerst sparsam wirtschaften, sie geben wenig Geld für die kulturelle Teilhabe und für Freizeitaktivitäten ihrer Kinder aus. Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung können Familien der unteren Mitte stärker gestützt werden. Wie großzügig die Ampel sein kann und will, muss sie aushandeln.

Auch sollte man es nicht übertreiben mit der Rhetorik einer radikalen Vereinfachung aller Sozialleistungen. Wenn die Leistungen für Familien einzelfallgerecht, rechtskonform und zudem finanzierbar sein sollen, wird es auch künftig nicht ohne ein gewisses Maß an Bürokratie gehen. So sinnvoll es ist, Leistungen für den Regelfall zu pauschalieren, es wird Bedarf geben, der eine Einzelfallprüfung erfordert. Die Jobcenter werden dabei eine wichtige Rolle behalten müssen.