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Gastkommentar auf ZEIT ONLINE 04.06.2024

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Bringschuld, Holschuld, Eigenverantwortung: Die Ampel streitet über die Balance von staatlicher Fürsorge und Selbstverantwortung. Eine Debatte ohne Schlagworte wäre gut.


In der verfahrenen Auseinandersetzung um die Kindergrundsicherung verteidigt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) ihr Vorhaben mit dem Argument, die "Holschuld der Bürger" müsse durch eine "Bringschuld des Staates" abgelöst werden. Ihr mächtigster Gegenspieler, Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), kontert: Diese Vorstellung sei "verstörend", der Staat solle die Menschen nicht von Eigenverantwortung entwöhnen. Lindners Kabinettskollege, Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), wird zum 75. Jubiläum des Grundgesetzes grundsätzlich: "Paternalismus kann sich nicht auf das Grundgesetz berufen." Und in einem Kommentar in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fordert die Journalistin Katja Gelinsky, nicht nur die Kindergrundsicherung aufzugeben, sondern gleich das ganze Familienministerium abzuschaffen. "Familien brauchen kein Nanny-Ministerium, sondern eine kluge Wirtschafts- und Finanzpolitik."
Abseits des plakativen Schlagabtauschs wäre eine konzeptionelle Debatte durchaus hilfreich. Verdrängt der Sozialstaat die Eigenverantwortung? Wie fürsorglich oder gar paternalistisch darf oder muss staatliche Sozialpolitik sein?


Der Staat ist kein Lieferservice
Das Bild von der Bringschuld des Staates, das Paus in die Debatte gebracht hat, ist durchaus schräg. Wer telefonisch eine Pizza nach Hause bestellt, vereinbart zugleich, dass die Pizzeria die Bringschuld hat. Der Staat ist aber kein Lieferservice. Andererseits aber fördert es nicht die Eigenverantwortung, auf die Lindner pocht, wenn Hürden beim Zugang zu sozialstaatlichen Leistungen gerade von denen nicht überwunden werden können, die am dringendsten auf Hilfen angewiesen sind. Es bedeutet keine "Entwöhnung" von Eigenverantwortung, wenn der Sozialstaat bürgerfreundlicher wird.
Eigenverantwortung ist zu einem Schlagwort geworden. Unbestreitbar gibt es eine problematische Verwendung des Topos der Eigenverantwortung, wenn damit Kürzungen von Sozialleistungen legitimiert werden sollen, ohne dass plausibel begründet werden kann, wie dies den Raum für Selbstsorge und Prävention erweitern kann. Es wäre dann ehrlicher, Kürzungen mit der Notwendigkeit zu begründen, öffentliche Haushalte zu konsolidieren, was notge-drungen auch zur Aufgabe von Politikerinnen und Politikern gehört.


Ohne Eigenverantwortung ist kein Sozialstaat zu machen
Viele jener, die sich für einen starken Sozialstaat einsetzen, reagieren reflexhaft auf den möglichen Missbrauch des Topos der Eigenverantwortung und rücken ihn in eine neoliberale Ecke. Er stehe für den Rückzug des Staates und die Individualisierung sozialer Notlagen. Aber selbstredend ist ohne die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger kein Staat zu machen, auch kein Sozialstaat.
Die entscheidende Frage ist: Leisten das Bildungs- und Sozialsystem das Mögliche, damit Menschen ihre Potenziale entfalten können, um überhaupt eigenverantwortlich handeln zu können? Aus diesem Blickwinkel zeigt sich, dass viele Familien eben mehr brauchen als eine kluge Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die beste Wirtschafts- und Finanzpolitik kann nicht verhindern, dass es Familien gibt, deren Kinder nicht stark ins Leben starten können.
Es gibt Eltern, die aufgrund der Brüche in ihrer Biografie entmutigt sind und erst wieder im Arbeitsmarkt und im Leben Fuß fassen können, wenn sie dabei unterstützt werden, ihre Selbstwirksamkeitsüberzeugungen zurückzugewinnen. Oder Kinder, die verloren sind, wenn kein achtsames Netzwerk früher Hilfen sie auffängt. Die Einforderung von Eigenverantwortung ist leer und hohl, wenn sie nicht mit der erforderlichen Unterstützung verbunden ist, Handlungsoptionen zu erweitern, die ein selbstverantwortetes Leben ermöglichen. Eine Bildungs- und Sozialpolitik, die sich als Politik der Befähigung begreift, stellt sich dieser Herausforderung. Das erfordert viel mehr Kooperation in dem stark zerklüfteten Sozialstaat. Das als entbehrlich gescholtene Bundesfamilienministerium hat viel unternommen, um die dafür notwendige professionelle Neuorientierung der Akteure des Sozialstaats voranzubringen.
Ist eine Sozialpolitik der Befähigung paternalistisch? Laut John Stuart Mill, dem Urvater der liberalen Paternalismuskritik, sind Eingriffe in die individuelle Handlungsfreiheit nur zulässig, wenn es darum geht, eine Schädigung Dritter abzuwehren. So nachzulesen in seiner Schrift On Liberty aus dem Jahr 1859. Es sei nicht die Aufgabe des Staates, Menschen vor sich selbst zu schützen. Aber wäre eine antipaternalistische Radikalkritik mit dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes vereinbar?


Zur Autonomie befähigen und im richtigen Maß paternalistisch sein

Es stimmt, Bildungs- und Sozialpolitik versuchen, Einfluss auf die Lebensentscheidungen von Menschen zu nehmen. Idealiter führt dies zu einer Erweiterung ihrer Handlungsoptio-nen, damit sie ein Leben führen können, das sie wertschätzen. Antipaternalistische Radikal-rhetorik verkennt, dass Menschen nicht immer in ihrem langfristigen Interesse handeln und somit eines gewissen Schutzes bedürfen. Auch in der Mitte der Gesellschaft akzeptieren wir staatlichen Paternalismus, etwa in Form der Verpflichtung zu Krankenversicherung und Al-tersvorsorge. Mit überwältigenden Mehrheiten erteilen Bürgerinnen und Bürger in Wahlen und Umfragen dafür ihre Zustimmung – doch wohl nicht, weil ihnen Autonomie nichts be-deutet, sondern weil sie berechtigte Zweifel hegen, ob sie ganz ohne das Korsett sozialstaat-licher Regelungen, also ohne verpflichtet zu sein, ausreichend vorsorgen würden. Weil das so ist, sollte man den Paternalismusvorbehalt nicht missbrauchen, um nun ausgerechnet am unteren Rand der Gesellschaft soziale Untätigkeit als Respekt vor Autonomie zu rechtfertigen.
Und dennoch muss eine Politik der Befähigung die Autonomie der Bürgerinnen und Bürger respektieren und dort, wo sie Menschen vor sich selbst zu schützen versucht, stets nach dem "Prinzip des schonendsten Paternalismus" handeln, wie dies die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlerin Anne van Aaken formuliert hat. Sie muss stets informieren und aufklären, sonst ist sie manipulativ.
Sozialpolitik ist unverzichtbar für die Teilhabe aller.
Das gilt auch und gerade für Menschen in gefährdeten Lebenslagen. Sie sind nicht nur die Opfer der externen Bedingungen, denen sie ausgesetzt sind. Es gibt Mechanismen der Selbstexklusion und des selbstschädigenden Verhaltens, die aus den jeweiligen Sozialisati-ons- und Lebenserfahrungen heraus zu verstehen sind; aber ändern können sich Menschen nun mal nur selbst. Beraterinnen in sozialen Brennpunkten oder sensibel agierende Fallma-nager in den Jobcentern unterstützen sie dabei.
Wo immer eine Politik der Befähigung ansetzt, sie ist als entscheidendes Element ihrer Wir-kungskette darauf angewiesen, dass Menschen Optionen der Befähigung aufgreifen. Das geht in aller Regel nur gemeinsam mit ihnen. Sie müssen Akteure ihrer Selbstbefähigung werden. Eine Sozial- und Bildungspolitik, die sich dieser Herausforderung stellt, ist nicht Ausdruck eines paternalistischen Nanny-Staates, sondern unverzichtbarer Teil zur Sicherung der Teilhabe aller.

2. Auflage, Tübingen 2023: Mohr Siebeck/UTB, 29 Euro (Zusammen mit Nils Goldschmidt und Sven Höfer)

Aus der Verlagsankündigung: Die Autoren erörtern die Marktfähigkeit sozialer Dienstleistungen und leiten aus den Charakteristika sozialer Dienstleistungen Konsequenzen für die Gestaltung der Märkte ab, auf denen sie erbracht werden. Ausführlich analysiert werden die alternativen Modelle der Marktgestaltung, das Sozialrechtliche Dreiecksverhältnis, die Sicherstellung der Nachfragemacht über ein persönliches Budget bzw. über Gutscheine und die Beauftragung privater Leistungserbringer mittels Ausschreibungen nach Vergaberecht. Für die Neuauflage wurden alle Kapitel des Buches überarbeitet und aktualisiert. Die Änderungen des Sozialrechts der letzten 10 Jahren wurden berücksichtigt. Neu ist eine ausführliche Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Kritik, die aus unterschiedlichen Richtungen am System der Erbringung sozialer Dienstleistungen geäußert wird. Die Autoren positionieren soziale Dienstleistungen als Teil einer inklusiv ausgerichteten Sozialen Marktwirtschaft, wobei die Marktgestaltung für hilfesuchende Menschen den entscheidenden Aspekt darstellt.

In: Journalistik. Zeitschrift für Journalismusforschung, Heft 2/2023, S. 214–232.

Abstract: Verbreitete Bilder zur sozialen Lage und zur Sozialpolitik in Deutschland haben – unabhängig davon, wie valide ihre empirische Basis ist – Folgen für die Berichterstattung. Sie prägen, welche Entwicklungen als berichtenswert angesehen und wie sie interpretiert werden. Damit verstärkt die Berichterstattung verfestigte Einschätzungen. Dies ist häufig nachteilig für eine lösungsorientierte Reformdebatte, da Probleme nicht differenziert und zielgruppengenau in den Blick genommen werden. Auf Seiten der Medien fehlt häufig das kritische Korrektiv, insbesondere dann, wenn Pressemeldungen von Sozialverbänden den Vorerwartungen entsprechen und die abgeleiteten Forderungen der Verbände einer guten Sache zu dienen scheinen. Selbst bei stark verzerrten Darstellungen gibt es Hemmungen bei Politikerinnen und Politikern, öffentlich eine Gegenposition zu vertreten, weil damit das Risiko verbunden ist, den Vorwurf zu erhalten, soziale Pro­bleme ›kleinreden‹ zu wollen. Auch fehlendes statistisches Handwerkszeug im Umgang mit komplexen Sozialstatistiken spielt eine Rolle.

https://journalistik.online/ausgabe-2-2023/das-kritische-korrektiv-fehlt/

Georg Cremer

Die Kindergrundsicherung soll Kinderarmut bekämpfen. Gemessen an realistischen Zielen kann sie dies leisten. Mit illusorischen Ansprüchen aber droht Politik zu scheitern.

Eine Analyse von Georg Cremer

Veröffentlicht auf ZEIT ONLINE, 24.02.2023

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Die Ampelkoalition streitet über die bekannt gewordenen Eckpunkte der Kindergrundsicherung. Die Erwartungen daran sind hoch. Tatsächlich könne sie ein armutspolitischer Erfolg werden, schreibt der Ökonom Georg Cremer. Sofern damit realistische Ziele verfolgt werden und nicht überzogene Erwartungen verknüpft. Der ehemalige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands analysiert für ZEIT ONLINE in loser Reihenfolge die aktuelle Sozialpolitik.

"Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen, werden mit der Kindergrundsicherung bessere Chancen für Kinder und Jugendliche schaffen und konzentrieren uns auf die, die am meisten Unterstützung brauchen." So heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel auf Seite 94. Nun sind die formell noch internen Eckpunkte des federführenden Familienministeriums für die Kindergrundsicherung bekannt geworden, und vor allem FDP und Grüne streiten darüber.

Dabei ist das Vorhaben sinnvoll, denn die Kindergrundsicherung vereint die wichtigsten monetären Leistungen für Kinder. Wer die Eckpunkte nicht vor Augen hat, dem sei das Modell noch einmal kurz vorgestellt: Mit der neuen Leistung wird das Kindergeld mit dem Kinderregelsatz des Bürgergelds (vor Kurzem noch Arbeitslosengeld II oder Hartz IV genannt), dem Kinderzuschlag für Niedrigeinkommensbezieher und dem Teilhabebetrag für Musikschule oder Sportverein aus dem Bildungs- und Teilhabepaket zusammengeführt. Das Kindergeld bekommen alle. Aber von den anderen Einzelleistungen wissen viele Familien nichts, trotz rechtlicher Ansprüche gehen sie oft leer aus. Künftig soll es einen Garantiebetrag geben, gleich hoch für alle Kinder, und einen Zusatzbeitrag in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern, so der Vorschlag.

Die Erwartungen sind hoch. Es soll alles ganz einfach sein. Im digitalen Kindergrundsicherungsportal sind die Daten verfügbar, die bei anderen Behörden bereits vorliegen. Der Staat kümmert sich darum, dass alle Kinder zu ihrem Recht kommen. Aus einer Holschuld der Eltern werde eine Bringschuld des Staates, so die Eckpunkte.

Die Ziele müssen realistisch bleiben

Unklar ist, welche Mittel für die Reform zur Verfügung stehen. Die Kindergrundsicherung sei keine neue Sozialleistung, sondern müsse "Leuchtturm für eine neue Sozialverwaltung" sein, fordert FDP-Fraktionschef Dürr. "Der Staat muss besser, nicht teurer werden." Das wäre die Magervariante der Kindergrundsicherung, die bisherigen Leistungsansprüche werden zusammengeführt, aber nicht erhöht. Aber teurer würde es trotzdem. Denn es ist schräg, wenn Dürr so tut, als würde Geld für Kinder im Sozialsystem versickern. Nein, es ist bisher schlicht nicht eingeplant worden, weil bei der Haushaltserstellung bekannt ist, dass viele Familien ihre Ansprüche nicht geltend machen. Ein Sozialstaat, dessen Unterstützung digitalisiert und zugänglich wird, wie dies auch Christian Lindner fordert, wird seine Zusagen umsetzen. Dann sollte Schluss damit sein, dass die Bundesregierung, wie 2019 mit dem Starke-Familien-Gesetz geschehen, den Kinderzuschlag substanziell verbessert und zugleich davon ausgeht, dass nur ein Drittel der berechtigten Familien mit niedrigem Erwerbseinkommen ihn erhalten wird. Diese hohe Nichtinanspruchnahme hat die Bundesregierung jüngst bestätigt. Selbst wenn es keine Leistungsverbesserungen gibt, kann die Kindergrundsicherung nicht ausgaben-neutral sein. Die Bundesregierung muss sich – in Abwägung anderer Prioritäten, die auch dringend sind – auf einen substanziellen Betrag einigen. Sonst kann sie es bleiben lassen.

Zugleich müssen die Ziele realistisch bleiben. Die Formulierung des Koalitionsvertrages, "mehr Kinder" aus der Armut herauszuholen, ist politisch riskant. Wie viele Kinder sollen dann weiterhin in der Armut zurückgelassen werden? Dem Vorhaben fehlt bisher ein klar definiertes armutspolitisches Ziel.

Das festzulegen, ist kommunikativ heikel. Die federführende Bundesfamilienministerin Lisa Paus formuliert sehr forsch: Es mache sie wütend, dass in einem so reichen Land wie Deutschland überhaupt Kinder in Armut aufwachsen müssen. Es sei eine Schande, dass jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut bedroht oder betroffen sei.

Damit verfängt sich die Ministerin – wie die meisten Sozialpolitikerinnen und -politiker – in den Fallstricken der deutschen Armutsdebatte. Sie referiert eine Zahl, die sich ergibt, wenn man die Kinder zählt, die in Familien leben, deren verfügbares Einkommen niedriger ist als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Haushalte gleicher Zusammensetzung. Die 60-Prozent-Grenze als statistische Konvention zur Messung des "Armutsrisikos" liegt immer zugrunde, wenn zu lesen ist, 16 Prozent der Bevölkerung in Deutschland seien arm, meist illustriert mit dem Bild eines obdachlosen oder Flaschen sammelnden Menschen.

Nimmt man die Ministerin wörtlich, so ist die Kindergrundsicherung nur dann ein Erfolg, wenn es in Deutschland keine Kinder mehr gibt, die in Familien leben, deren Einkommen unterhalb der 60-Prozent-Schwelle liegt. Diese wird auf Grundlage von Einkommensbefragungen ermittelt. Da es mehrere davon gibt, gibt es unterschiedliche Einkommensrisikogrenzen. Das Statistische Bundesamt ermittelt auf Grundlage des Mikrozensus bei einer Familie mit zwei Kindern (einem unter, einem über 14 Jahre) für 2021 eine "Armutsrisikogrenze" von 2.877 Euro verfügbarem Einkommen. Nach den Daten für 2018, der jüngsten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), die stets höhere Werte als der Mikrozensus ausweist, liegt die Grenze für eine Familie gleicher Zusammensetzung bei 3.137 Euro. 

Armutsgrenzen taugen nicht als sozialpolitische Norm

Diese Grenzen taugen aber nicht als sozialpolitische Norm. Auch in den gut ausgebauten Wohlfahrtsstaaten in Skandinavien ist es nie gelungen, allen Menschen ein Einkommen oberhalb der 60-Prozent-Schwelle zu garantieren. Es ist sinnlos, Erfolg oder Misserfolg der Kindergrundsicherung an dieser Schwelle zu messen. Verteilungspolitik müsste sicherstellen, dass es überhaupt keine Familien gibt, deren verfügbares Einkommen unter den genannten Einkommensschwellen liegt. Und zwar unabhängig davon, ob und wie viel die Eltern arbeiten, unabhängig davon, ob sie in Gegenden mit hohen oder niedrigen Mieten leben. Selbst die derzeit gehandelte Maximalforderung zur Kindergrundsicherung könnte nicht verlässlich sicherstellen, dass die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe künftig ein "Armutsrisiko" der Kinder von null ausweist. Die Rhetorik von Sozialstaatsversagen und Schande ginge somit weiter.

Die Bundesregierung muss sich also verständigen, was sie armutspolitisch erreichen will. Transferleistungen für arme Menschen müssen den Bedarf decken, dieser muss transparent ermittelt und politisch entschieden werden. Diese Aufgabe kann man nicht an die Statistiker auslagern.

Was wären realistische Ziele? Ein großer Fortschritt wäre bereits, wenn es gelänge, über den Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung alle Familien von Erwerbstätigen mit niedrigen Einkommen verlässlich zu erreichen. Darüber hinaus sollte man den Berechnungsprozess für den Bedarf von Kindern überprüfen. Lisa Paus fordert dies in der aktuellen Auseinandersetzung mit Lindner. Die Berechnung erfolgt über ein statistisches Verfahren, mit dem erfasst wird, was Elternpaare mit einem Kind für ihre Kinder ausgeben, die etwas mehr haben als Empfänger von Sozialtransfers. Auch diese Familien können nur äußerst sparsam wirtschaften, sie geben wenig Geld für die kulturelle Teilhabe und für Freizeitaktivitäten ihrer Kinder aus. Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung können Familien der unteren Mitte stärker gestützt werden. Wie großzügig die Ampel sein kann und will, muss sie aushandeln.

Auch sollte man es nicht übertreiben mit der Rhetorik einer radikalen Vereinfachung aller Sozialleistungen. Wenn die Leistungen für Familien einzelfallgerecht, rechtskonform und zudem finanzierbar sein sollen, wird es auch künftig nicht ohne ein gewisses Maß an Bürokratie gehen. So sinnvoll es ist, Leistungen für den Regelfall zu pauschalieren, es wird Bedarf geben, der eine Einzelfallprüfung erfordert. Die Jobcenter werden dabei eine wichtige Rolle behalten müssen.


  • Serienübersicht
    • "Die Mittelschicht bröckelt, schrumpft, erodiert oder zerfällt" (30.06.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Um Altersarmut zu bekämpfen, muss das Rentenniveau erhöht werden!" (07.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Der Sozialstaat explodiert" (14.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Hartz IV ist eine gigantische Maschinerie zur Aufstockung von Armutslöhnen" (21.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Die Umverteilung findet von unten nach oben statt" (28.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Wir sind die letzte Generation, der es besser geht als ihren Eltern" (08.08.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Früher konnte eine Familie von einem Gehalt noch leben" ZEIT ONLINE (Z+)
    • "Vermögensteuer wieder einführen – damit der Staat endlich handlungsfähig wird!" ZEIT ONLINE (Z+)

Freiburg: Herder, gebunden, 25 Euro

Der deutsche Sozialstaat ist gut ausgebaut, aber er leistet nicht genug gegen gesellschaftliche Spaltung. So wichtig Umverteilung ist, Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen. Um teilhaben zu können, müssen alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potentiale entfalten können. Eine Politik der Befähigung, wie sie Georg Cremer in diesem Buch vorstellt, fördert Selbstsorge und Autonomie, ohne die Fürsorge zu vernachlässigen. Sie stärkt zugleich die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Und sie ermöglicht einen Mittelweg zwischen dem illusionären Wunsch nach völlig anderen Verhältnissen und der resignativen Kapitulation vor verfestigter sozialer Ungleichheit. Sozial ist, was Menschen schützt und sie zugleich stärkt.

Verlagsinformation, Leseprobe

Gespräch zum Buch mit Susanne Führer: Deutschlandfunk Kultur

Saarländischer Rundfunk: Fragen an den Autor. Gespräch mit Kai Schmieding, 12.09.2021

„Der Mitte ist ihr eigenes Hemd näher“. Interview SPIEGEL online mit Cordula Meyer und Katja Thimm, 23.09.2021

Deutschlandfunk Streitkultur: Streitgespräch zwischen Christoph Butterwegge und Georg Cremer. Moderation Victoria Eglau, 02.10.2021

Besprechung von Matthias Schulze-Böing auf faustkultur.de

Vortrag "Aufstieg aus dem Abseits - Für eine Politik der Befähigung". Walter Eucken Institut u. Aktionskreis Freiburger Schule (21.06.2022) Aufzeichnung bei Youtube

Literaturverzeichnis mit Internetquellen

Wie zu erwarten war, hat es nicht an Versuchen gefehlt, mit der Pandemie die große Erzählung des Sozialabbaus zu bedienen, etwa mit dem Gerede vom „kaputtgesparten Gesundheitswesen“. Dabei hat sich der Sozialstaat bewährt. Es zeigen sich aber Defizite im Umgang mit jenen, die am verwundbarsten sind. Daraus sollte man für die Zeit nach Corona lernen. Von Georg Cremer

Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Gegenwart, 15. März 2021

https://zeitung.faz.net/faz/politik/2021-03-15/ein-jahr-corona-der-sozialstaat-im-stresstest/584463.html

Standpunkt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.2020

Norma­ler­wei­se wird die Ankün­di­gung eines Forschungs­pro­jek­tes von der Öffent­lich­keit nicht weiter beach­tet. Dies­mal ist es anders, das Pres­se­echo ist groß. Der Verein „Mein Grund­ein­kom­men“ ermög­licht über Spen­den aus einem großen Kreis von Unter­stüt­zern einen Modell­ver­such, den das Deut­sche Insti­tut für Wirt­schafts­for­schung wissen­schaft­lich beglei­ten wird. Drei Jahre lang werden 120 aus den Bewer­bern zufäl­lig ausge­wähl­te Menschen ein bedin­gungs­lo­ses Grund­ein­kom­men von 1200 Euro im Monat erhal­ten. Sie werden regel­mä­ßig befragt werden, wie auch eine größe­re Kontroll­grup­pe, die kein Grund­ein­kom­men erhält.

Man betre­te damit wissen­schaft­li­ches Neuland, so der wissen­schaft­li­che Leiter der Begleit­for­schung, Jürgen Schupp. „Wir möch­ten heraus­fin­den, ob ein bedin­gungs­los ausge­zahl­ter Geld­be­trag über den Zeit­raum von drei Jahren zu statis­tisch signi­fi­kan­ten Verän­de­run­gen im Handeln und Empfin­den führt.“

Vermut­lich wird dies so sein. Monat­lich 1200 Euro für drei Jahre entspricht einem Geld­ge­schenk von 43200 Euro. Manche werden ein Studi­um aufneh­men, von dem sie schon lange geträumt haben. Andere werden sich mehr Zeit für die Fami­lie gönnen, solan­ge die Kinder klein sind. Viele werden schlicht genau so weiter­ar­bei­ten wie bisher, weil sie damit zufrie­den sind und zudem wegen einer drei­jäh­ri­gen Einkom­mens­sprit­ze nicht ihre beruf­li­chen Ambi­tio­nen aufge­ben. Aber sie freuen sich über das Vermö­gens­pols­ter, das sie in der Zeit aufbau­en können.

Allein­er­zie­hen­de, die nur in Teil­zeit arbei­ten können, werden durch­at­men, da sie drei entschei­den­de Jahre ohne finan­zi­el­le Sorgen verbrin­gen können. Hartz-IV-Empfän­ger werden mit größe­rer Moti­va­ti­on eine Arbeit aufneh­men, weil ihnen, da ihr Einkom­men für drei Jahre bedin­gungs­los ist, nicht das meiste ihres Verdiens­tes über den Trans­fe­r­ent­zug wieder verlo­ren­geht. Die Studie wird Erkennt­nis­se brin­gen, die man dem bei weitem schlech­tes­ten Argu­ment gegen das bedin­gungs­lo­se Grund­ein­kom­men entge­gen­set­zen kann: Alle würden sich dann auf die faule Haut legen und aufhö­ren zu arbei­ten. Dies werden wohl die wenigs­ten tun.

Aber sind wir, wenn wir dies wissen und nicht nur vermu­ten, wirk­lich besser gewapp­net, um zu entschei­den, ob ein Grund­ein­kom­men für alle einge­führt werden kann? Sollte es je Wirk­lich­keit werden, so muss es finan­ziert werden. Der Verein „Mein Grund­ein­kom­men“ fordert eine bedin­gungs­lo­se Zahlung an alle Bürger und will zugleich den heuti­gen Sozi­al­staat erhal­ten. Er setzt sich sehr eindeu­tig von dem Vorschlag des Hambur­ger Ökono­men Thomas Straub­haar ab, durch ein Grund­ein­kom­men den Sozi­al­staat heuti­ger Prägung zu erset­zen.

Sozi­al­staat plus Grund­ein­kom­men ginge nur mit sehr hohen Steu­ern, wenn es denn über­haupt ginge. Die Steu­ern müss­ten vom ersten Euro an auf alle wirt­schaft­li­chen Akti­vi­tä­ten erho­ben werden. Ein Grund­ein­kom­men von 1200 Euro liegt deut­lich ober­halb der Werte, die bei bishe­ri­gen Abschät­zun­gen der Steu­er­be­las­tung, die ein Grund­ein­kom­men erfor­der­te, ange­nom­men wurden. Wie würde sich ein einheit­li­cher Steu­er­satz von beispiels­wei­se 60 Prozent – der obere Wert der bishe­ri­gen Abschät­zun­gen – oder eine noch höhere Besteue­rung auf das Arbeits­an­ge­bots­ver­hal­ten auswir­ken?

Auch wenn viele Menschen zwar weiter­ar­bei­ten, aber ihr Arbeits­vo­lu­men redu­zie­ren, redu­ziert dies die zu versteu­ern­den Einkom­men wie auch das Fach­kräf­te­an­ge­bot. Schwarz­ar­beit nähme vermut­lich zu. Viele Menschen werden, um die hohen Belas­tun­gen zu vermei­den, mehr Güter und Diens­te in Eigen­ar­beit erstel­len. Befür­wor­ter des Grund­ein­kom­mens mögen darin einen begrü­ßens­wer­ten Schritt weg von der Arbeits-, hin zu einer Tätig­keits­ge­sell­schaft sehen. Aber die Flucht in die Autar­kie redu­ziert die Steu­er­ba­sis und zudem die Chan­cen von Menschen mit gerin­gen Quali­fi­ka­tio­nen, ihr Grund­ein­kom­men durch Erwerbs­ar­beit aufzu­sto­cken, und verfes­tigt damit ihren gesell­schaft­li­chen Ausschluss. Schlie­ß­lich kann man das am leich­tes­ten selbst herstel­len, wozu man keine beson­de­ren Quali­fi­ka­tio­nen benö­tigt. Ein gewis­ser Teil der frei­be­ruf­lich Täti­gen dürfte die Frei­zü­gig­keit in Europa nutzen, um den hohen Steu­ern zu entkom­men. Viele Dienst­leis­tun­gen kann man auch anbie­ten, wenn der Wohn­sitz (offi­zi­ell) jenseits der Grenze liegt.

Je umfang­rei­cher diese und andere Ausweich­re­ak­tio­nen genutzt werden, desto höher muss die Besteue­rung der weiter­hin steu­er­lich erfass­ten Wert­schöp­fung ausfal­len. Irgend­wann über­schrei­tet man mit stark stei­gen­den Belas­tun­gen auch verfas­sungs­recht­li­che Gren­zen. Auch wenn diese nicht eindeu­tig bestimmt sind, darf die Besteue­rung keine konfis­ka­to­ri­sche Wirkung haben. Das gebie­tet auch die ökono­mi­sche Vernunft.

Diese Proble­me kann der nun star­ten­de Praxis­test nicht erfor­schen. Denn das Grund­ein­kom­men wird geschenkt, ohne dass bei ande­ren eine Belas­tung anfällt, außer bei Spen­dern, die dies frei­wil­lig tun. Nichts muss an ande­rer Stelle ange­passt werden, Sozi­al­leis­tun­gen und Steu­ern blei­ben unver­än­dert. In einem Test mit 120 glück­li­chen Gewin­nern geht das. Bei einem Grund­ein­kom­men für alle ginge dies nur, wenn es ein höhe­res Wesen gäbe, das uns jedes Jahr etwa 1000 Milli­ar­den Euro schenk­te. Wirk­lich erpro­ben kann man das bedin­gungs­lo­se Grund­ein­kom­men nur im gesell­schaft­li­chen Groß­ver­such, mit den entspre­chen­den Risi­ken.