- Serienübersicht
- "Die Mittelschicht bröckelt, schrumpft, erodiert oder zerfällt" (30.06.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Um Altersarmut zu bekämpfen, muss das Rentenniveau erhöht werden!" (07.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Der Sozialstaat explodiert" (14.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Hartz IV ist eine gigantische Maschinerie zur Aufstockung von Armutslöhnen" (21.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Die Umverteilung findet von unten nach oben statt" (28.07.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Wir sind die letzte Generation, der es besser geht als ihren Eltern" (08.08.2022) ZEIT ONLINE (Z+)
- "Früher konnte eine Familie von einem Gehalt noch leben" ZEIT ONLINE (Z+)
- "Vermögensteuer wieder einführen – damit der Staat endlich handlungsfähig wird!" ZEIT ONLINE (Z+)
Kategorie: Allgemein

Freiburg: Herder, gebunden, 25 Euro
Der deutsche Sozialstaat ist gut ausgebaut, aber er leistet nicht genug gegen gesellschaftliche Spaltung. So wichtig Umverteilung ist, Geld allein kann Gerechtigkeit nicht erzwingen. Um teilhaben zu können, müssen alle Bürgerinnen und Bürger ihre Potentiale entfalten können. Eine Politik der Befähigung, wie sie Georg Cremer in diesem Buch vorstellt, fördert Selbstsorge und Autonomie, ohne die Fürsorge zu vernachlässigen. Sie stärkt zugleich die Leistungsfähigkeit des Sozialstaats. Und sie ermöglicht einen Mittelweg zwischen dem illusionären Wunsch nach völlig anderen Verhältnissen und der resignativen Kapitulation vor verfestigter sozialer Ungleichheit. Sozial ist, was Menschen schützt und sie zugleich stärkt.
Verlagsinformation, Leseprobe
Gespräch zum Buch mit Susanne Führer: Deutschlandfunk Kultur
Saarländischer Rundfunk: Fragen an den Autor. Gespräch mit Kai Schmieding, 12.09.2021
Besprechung von Matthias Schulze-Böing auf faustkultur.de
Vortrag "Aufstieg aus dem Abseits - Für eine Politik der Befähigung". Walter Eucken Institut u. Aktionskreis Freiburger Schule (21.06.2022) Aufzeichnung bei Youtube
Ein Jahr Corona: Der Sozialstaat im Stresstest
Wie zu erwarten war, hat es nicht an Versuchen gefehlt, mit der Pandemie die große Erzählung des Sozialabbaus zu bedienen, etwa mit dem Gerede vom „kaputtgesparten Gesundheitswesen“. Dabei hat sich der Sozialstaat bewährt. Es zeigen sich aber Defizite im Umgang mit jenen, die am verwundbarsten sind. Daraus sollte man für die Zeit nach Corona lernen. Von Georg Cremer
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Gegenwart, 15. März 2021
Experiment zum Grundeinkommen: Werden wir hinterher klüger sein?
Standpunkt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.2020
Normalerweise wird die Ankündigung eines Forschungsprojektes von der Öffentlichkeit nicht weiter beachtet. Diesmal ist es anders, das Presseecho ist groß. Der Verein „Mein Grundeinkommen“ ermöglicht über Spenden aus einem großen Kreis von Unterstützern einen Modellversuch, den das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung wissenschaftlich begleiten wird. Drei Jahre lang werden 120 aus den Bewerbern zufällig ausgewählte Menschen ein bedingungsloses Grundeinkommen von 1200 Euro im Monat erhalten. Sie werden regelmäßig befragt werden, wie auch eine größere Kontrollgruppe, die kein Grundeinkommen erhält.
Man betrete damit wissenschaftliches Neuland, so der wissenschaftliche Leiter der Begleitforschung, Jürgen Schupp. „Wir möchten herausfinden, ob ein bedingungslos ausgezahlter Geldbetrag über den Zeitraum von drei Jahren zu statistisch signifikanten Veränderungen im Handeln und Empfinden führt.“
Vermutlich wird dies so sein. Monatlich 1200 Euro für drei Jahre entspricht einem Geldgeschenk von 43200 Euro. Manche werden ein Studium aufnehmen, von dem sie schon lange geträumt haben. Andere werden sich mehr Zeit für die Familie gönnen, solange die Kinder klein sind. Viele werden schlicht genau so weiterarbeiten wie bisher, weil sie damit zufrieden sind und zudem wegen einer dreijährigen Einkommensspritze nicht ihre beruflichen Ambitionen aufgeben. Aber sie freuen sich über das Vermögenspolster, das sie in der Zeit aufbauen können.
Alleinerziehende, die nur in Teilzeit arbeiten können, werden durchatmen, da sie drei entscheidende Jahre ohne finanzielle Sorgen verbringen können. Hartz-IV-Empfänger werden mit größerer Motivation eine Arbeit aufnehmen, weil ihnen, da ihr Einkommen für drei Jahre bedingungslos ist, nicht das meiste ihres Verdienstes über den Transferentzug wieder verlorengeht. Die Studie wird Erkenntnisse bringen, die man dem bei weitem schlechtesten Argument gegen das bedingungslose Grundeinkommen entgegensetzen kann: Alle würden sich dann auf die faule Haut legen und aufhören zu arbeiten. Dies werden wohl die wenigsten tun.
Aber sind wir, wenn wir dies wissen und nicht nur vermuten, wirklich besser gewappnet, um zu entscheiden, ob ein Grundeinkommen für alle eingeführt werden kann? Sollte es je Wirklichkeit werden, so muss es finanziert werden. Der Verein „Mein Grundeinkommen“ fordert eine bedingungslose Zahlung an alle Bürger und will zugleich den heutigen Sozialstaat erhalten. Er setzt sich sehr eindeutig von dem Vorschlag des Hamburger Ökonomen Thomas Straubhaar ab, durch ein Grundeinkommen den Sozialstaat heutiger Prägung zu ersetzen.
Sozialstaat plus Grundeinkommen ginge nur mit sehr hohen Steuern, wenn es denn überhaupt ginge. Die Steuern müssten vom ersten Euro an auf alle wirtschaftlichen Aktivitäten erhoben werden. Ein Grundeinkommen von 1200 Euro liegt deutlich oberhalb der Werte, die bei bisherigen Abschätzungen der Steuerbelastung, die ein Grundeinkommen erforderte, angenommen wurden. Wie würde sich ein einheitlicher Steuersatz von beispielsweise 60 Prozent – der obere Wert der bisherigen Abschätzungen – oder eine noch höhere Besteuerung auf das Arbeitsangebotsverhalten auswirken?
Auch wenn viele Menschen zwar weiterarbeiten, aber ihr Arbeitsvolumen reduzieren, reduziert dies die zu versteuernden Einkommen wie auch das Fachkräfteangebot. Schwarzarbeit nähme vermutlich zu. Viele Menschen werden, um die hohen Belastungen zu vermeiden, mehr Güter und Dienste in Eigenarbeit erstellen. Befürworter des Grundeinkommens mögen darin einen begrüßenswerten Schritt weg von der Arbeits-, hin zu einer Tätigkeitsgesellschaft sehen. Aber die Flucht in die Autarkie reduziert die Steuerbasis und zudem die Chancen von Menschen mit geringen Qualifikationen, ihr Grundeinkommen durch Erwerbsarbeit aufzustocken, und verfestigt damit ihren gesellschaftlichen Ausschluss. Schließlich kann man das am leichtesten selbst herstellen, wozu man keine besonderen Qualifikationen benötigt. Ein gewisser Teil der freiberuflich Tätigen dürfte die Freizügigkeit in Europa nutzen, um den hohen Steuern zu entkommen. Viele Dienstleistungen kann man auch anbieten, wenn der Wohnsitz (offiziell) jenseits der Grenze liegt.
Je umfangreicher diese und andere Ausweichreaktionen genutzt werden, desto höher muss die Besteuerung der weiterhin steuerlich erfassten Wertschöpfung ausfallen. Irgendwann überschreitet man mit stark steigenden Belastungen auch verfassungsrechtliche Grenzen. Auch wenn diese nicht eindeutig bestimmt sind, darf die Besteuerung keine konfiskatorische Wirkung haben. Das gebietet auch die ökonomische Vernunft.
Diese Probleme kann der nun startende Praxistest nicht erforschen. Denn das Grundeinkommen wird geschenkt, ohne dass bei anderen eine Belastung anfällt, außer bei Spendern, die dies freiwillig tun. Nichts muss an anderer Stelle angepasst werden, Sozialleistungen und Steuern bleiben unverändert. In einem Test mit 120 glücklichen Gewinnern geht das. Bei einem Grundeinkommen für alle ginge dies nur, wenn es ein höheres Wesen gäbe, das uns jedes Jahr etwa 1000 Milliarden Euro schenkte. Wirklich erproben kann man das bedingungslose Grundeinkommen nur im gesellschaftlichen Großversuch, mit den entsprechenden Risiken.
Anhörung zum Grundrentengesetz
Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales, 25.05.2020
Stellungnahme G. Cremer https://www.bundestag.de/resource/blob/697082/e8caf5c3196ceeb1df50fbf803f3993f/19-11-664-data.pdf
Armut im Alter: zum Verantwortungsbereich von Rentenversicherung und Sozialhilfe
Beitrag in: Deutsche Rentenversicherung 1/2020, S. 127 – 144. PDF
Armut im Alter wird entweder vermieden, oder sie muss, wenn sie einzutreten droht, durch ein Grundsicherungssystem bekämpft werden. Rentenversicherung und Sozialhilfe entsprechen mit dem Äquivalenz- beziehungsweise dem Bedürftigkeitsprinzip klar unterscheidbaren Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Die Auseinandersetzung zur Abgrenzung des Verantwortungsbereichs von Rentensystem und Sozialhilfe wird zur Gruppe der Menschen geführt, die trotz langjähriger sozialversicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit keine armutsvermeidenden Rentenanwartschaften erworben haben. Die vom Bundeskabinett in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachte Grundrente zielt auf die materielle Besserstellung dieser Gruppe innerhalb des Rentensystems; sie differenziert aber nicht nach den Gründen, warum keine armutsvermeidende Altersabsicherung erreicht wurde. Armutsvermeidung ist nur ein Nebeneffekt der Grundrente, somit bleibt der Reformbedarf bei der Grundsicherung im Alter. Über eine Freibetragsregelung kann sichergestellt werden, dass alle Empfänger der Grundsicherung im Alter, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, über höhere Alterseinkünfte verfügen, als wenn sie nie Rentenbeiträge geleistet hätten, und sich somit ihre Beiträge im Alter gelohnt haben werden.
Interview mit Zeit online 12.12.2019
"Die SPD sollte stolz auf ihre Leistung für den Sozialstaat sein"
Das Lamento, der Staat habe sich aus der sozialen Verantwortung zurückgezogen, ist falsch, sagt Georg Cremer. Der Ökonom kritisiert eine verquere deutsche Armutsdebatte.
Interview: Marcus Gatzke https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-12/spd-sozialpolitik-hartz-mindestlohn-georg-cremer
Vorletztes Buch: Deutschland ist gerechter als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme (2018)
Wie ungerecht ist Deutschland wirklich? Hat es einen neoliberalen Sozialabbau gegeben, der nur noch einen «Suppenküchensozialstaat» übrigließ, wie vielerorts zu lesen ist? Georg Cremer unterwirft den vorherrschenden Niedergangsdiskurs einem Realitätstest und zeigt, dass zwar längst nicht alles gerecht ist in Deutschland, aber doch gerechter als viele meinen. Wer unsere Debatten verfolgt, der liest viel über soziale Kälte, über steigende Armut und wachsende Ungleichheit, aber wenig über die Leistungen des Sozialstaats. Dabei steigt die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten stetig. Heute geben wir fast 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung für den Sozialstaat aus. Zur Zeit der Wiedervereinigung waren es noch 26 Prozent. Wenn das, was der Sozialstaat leistet, schlecht geredet wird, wenn positive reformerische Schritte als Klein-Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen werden, dann nützt das den populistischen Kräften, die der Politik unterstellen, sich nicht um «die Belange des Volkes» zu kümmern. Wenn wir unsere Demokratie stärken wollen, ist eine realistischere Diskussion über den Zustand des Sozialstaats unerlässlich. Denn in Wahrheit sahen wir in den letzten Jahren keinen herzlosen Sozialabbau, sondern den Versuch der Politik, den Sozialstaat bei wachsenden Leistungen auch in Zukunft zu sichern und bezahlbar zu halten. Im Niedergangsdiskurs droht Sozialpolitik die breite politische Unterstützung zu verlieren, ohne die sie nicht handeln kann.
Wohltätiger Staat ja, lästiger Staat nein?
Beitrag zu den ethischen Fallstricken der Debatte zu Sozialstaat und Sozialpolitik
Veröffentlicht in Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Gegenwart, 25.02.2019: