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Beitrag in: Deutsche Rentenversicherung 1/2020, S. 127 – 144. PDF

Armut im Alter wird entweder vermieden, oder sie muss, wenn sie einzutreten droht, durch ein Grundsicherungssystem bekämpft werden. Rentenversicherung und Sozialhilfe entsprechen mit dem Äquivalenz- beziehungsweise dem Bedürftigkeitsprinzip klar unterscheidbaren Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit. Die Auseinandersetzung zur Abgrenzung des Verantwortungsbereichs von Rentensystem und Sozialhilfe wird zur Gruppe der Menschen geführt, die trotz langjähriger sozialversicherungspflichtiger Erwerbstätigkeit keine armutsvermeidenden Rentenanwartschaften erworben haben. Die vom Bundeskabinett in das Gesetzgebungsverfahren eingebrachte Grundrente zielt auf die materielle Besserstellung dieser Gruppe innerhalb des Rentensystems; sie differenziert aber nicht nach den Gründen, warum keine armutsvermeidende Altersabsicherung erreicht wurde. Armutsvermeidung ist nur ein Nebeneffekt der Grundrente, somit bleibt der Reformbedarf bei der Grundsicherung im Alter. Über eine Freibetragsregelung kann sichergestellt werden, dass alle Empfänger der Grundsicherung im Alter, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt waren, über höhere Alterseinkünfte verfügen, als wenn sie nie Rentenbeiträge geleistet hätten, und sich somit ihre Beiträge im Alter gelohnt haben werden.

"Die SPD sollte stolz auf ihre Leistung für den Sozialstaat sein"

Das Lamento, der Staat habe sich aus der sozialen Verantwortung zurückgezogen, ist falsch, sagt Georg Cremer. Der Ökonom kritisiert eine verquere deutsche Armutsdebatte.

Interview: Marcus Gatzke https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-12/spd-sozialpolitik-hartz-mindestlohn-georg-cremer

Wie ungerecht ist Deutschland wirklich? Hat es einen neoliberalen Sozialabbau gegeben, der nur noch einen «Suppenküchensozialstaat» übrigließ, wie vielerorts zu lesen ist? Georg Cremer unterwirft den vorherrschenden Niedergangsdiskurs einem Realitätstest und zeigt, dass zwar längst nicht alles gerecht ist in Deutschland, aber doch gerechter als viele meinen. Wer unsere Debatten verfolgt, der liest viel über soziale Kälte, über steigende Armut und wachsende Ungleichheit, aber wenig über die Leistungen des Sozialstaats. Dabei steigt die Zahl der in diesem Sektor Beschäftigten stetig. Heute geben wir fast 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung für den Sozialstaat aus. Zur Zeit der Wiedervereinigung waren es noch 26 Prozent. Wenn das, was der Sozialstaat leistet, schlecht geredet wird, wenn positive reformerische Schritte als Klein-Klein diskreditiert oder schlicht nicht wahrgenommen werden, dann nützt das den populistischen Kräften, die der Politik unterstellen, sich nicht um «die Belange des Volkes» zu kümmern. Wenn wir unsere Demokratie stärken wollen, ist eine realistischere Diskussion über den Zustand des Sozialstaats unerlässlich. Denn in Wahrheit sahen wir in den letzten Jahren keinen herzlosen Sozialabbau, sondern den Versuch der Politik, den Sozialstaat bei wachsenden Leistungen auch in Zukunft zu sichern und bezahlbar zu halten. Im Niedergangsdiskurs droht Sozialpolitik die breite politische Unterstützung zu verlieren, ohne die sie nicht handeln kann.